Serengeti!

In jedem Gespräch lässt sich eins feststellen:

Die subjektive Wahrnehmung der gerade ablaufenden Wirklichkeit ist nicht homogen.

Sensationell dabei finde ich, dass trotzdem so etwas wie ein Dialog zustande kommt.
Obwohl wir auch das vermutlich nur annehmen.

Wie komme ich darauf? Mir fiel gerade eine Geschichte ein, die ich früher einmal irgendwo gelesen habe.

Ein Safaribus voller Touristen fährt in der Serengeti an den verschiedensten Tieren vorbei. Wie die Wilden hängen alle Reisenden an den Fenstern, ihre verschieden teuren Kameras vorm Gesicht und fotografieren unaufhörlich. Nur ein Mann sitzt still und unbewegt am Fenster und schaut hinaus. Nach einer Weile bemerkt das sein Sitznachbar und fragt ihn: „Sagen Sie einmal. Warum fotografieren Sie denn nicht?“ Der Mann antwortet: „Ich seh’s mir gleich hier an.“

ilyaska@Fotolia

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Ich denke, so kann man sich an die Begriffe ‚Wirklichkeit und Wahrnehmung, Erinnerung und Persönlichkeit’ ganz gut annähern. Wenn wir die Wirklichkeit mal definieren als die Szenerie in der Serengeti: Mehrere Affenbrotbäume und Schirmtannen, einiges Gebüsch und verschiedenste Tiere pittoresk in der Steppe verteilt. Es ist Tag, die Sonne steht hoch und wirft starke Schatten, in denen Löwen dösen. In der Ferne ziehen einige Giraffen.

Dazu – ganz nebenbei – eine Frage aus dem Zen: Existiert diese Szenerie auch ohne Beobachter?

Doch wir haben ja unsere Touristen. Fotografieren sie, sind sie bereits mit einer doppelten Meta-Wirklichkeit befasst. Alle Sinneseindrücke werden im Gehirn gesammelt, bewertet und interpretiert. Das ist Filter Nummer 1. Filter Nummer 2 ist dann die Kamera, die das bereits interpretierte Geschehen abbildet. Wird sich später das Foto angeschaut, befinden wir uns in Meta-Ebene 3. Sprechen anschließend zwei Touristen anhand der entwickelten Fotos über ihre gemeinsame Reise und die oben beschrieben Szenerie, kommen Ebene 4, 5 und 6 dazu. Wie wirklich ist jetzt noch die Wirklichkeit? Der Tourist, der nicht fotografierte, müsste der Realität um drei Ebenen näher sein, wenn man so will.

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Wohl gemerkt, ich spreche über einen Ausschnitt gemeinsam erlebten Geschehens. Um wieviel schwieriger wird die Verständigung, wenn wir uns über ein abstraktes oder ideelles Thema unterhalten wollen? Wobei dieses Thema auch noch individuell interpretierbar sein dürfte, wie es ja meistens passiert. Ein Beispiel: Ist Provokation ein geeignetes Mittel der Werbung?

Wenn ich diese täglichen Diskussionen, in denen es um eigene Standpunkte und deren Wichtigkeit geht und die über mehrere Meta-Ebenen ablaufen, so verfolge, frage ich mich manchmal: Meint ihr das ernst oder ahnt ihr wenigstens, welcher Irrsinn da gerade abläuft?

Sind Sie noch bei mir?

50-plus!

„Rotwein ist für alte Knaben
eine von den besten Gaben!“

Warum ich Ihnen das schreibe, obwohl ich weder Rotwein noch andere alkoholische Getränke konsumiere? Höchstens mal eine prickelnde Radlermaß im sommerlichen Biergarten und im kühlen Schatten alter Kastanienbäume. Wie vermutlich die meisten von uns habe ich verschiedene E-Mail-Adressen, die man benützt, um sich irgendwo anzumelden und die man dann wieder löscht, wenn zu viel SPAM eingeht. Also eine temporäre Alias-ID sozusagen.

Bei einem dieser E-Mail-Konten ist es mir heute plötzlich bewusst geworden: Seit einiger Zeit bekomme ich laufend Angebote von, wie soll ich sagen, eher senioren-lastigen Produkten. Da werden mir Treppenlifte angeboten, verschiedenste Hörgeräte und natürlich besagter Rotwein. Auch Singlefrauen über 50 könnte ich treffen oder meine vermeintlich nachlassende Männlichkeit… na, Sie wissen schon!

Wenn man wie ich bereits die 50 überschritten hat, ist man ja bereits aus der TV-werberelevanten Zielgruppe der 14 bis 49-Jährigen rausgefallen. Auch wenn diese Einteilung eine Marketing-Idee des damaligen RTL-Senderchefs Dr. Helmut Thoma war, der so seinen neuen Sender präsentierte und sich damit für die werbetreibende Industrie sexy machen wollte: Der Sender mit der höchsten Einschalt-Quote in der werberelevanten Zielgruppe von 14-49!

Er hätte auch 18-58 nehmen können, hat er aber nicht. Jedenfalls wurde diese Einteilung ungefragt übernommen und gilt heute als wichtiger Standard der Werbestrategen. Kürzlich bekam ich sogar eine Einladung für eine 50-Plus-Messe in München, „die 66“, die sich seit diesem Jahr „LEIF – Die Erlebnismesse für Menschen mitten im Leben“ umbenannt hat.

Laut aktueller Sterbetafel sind im Jahr 2018 etwa 955.000 Menschen in Deutschland gestorben, wobei die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern bei 78,4 Jahren und bei Frauen bei 83,2 Jahren liegt. Wenn man also alle Menschen von 50 bis 80 unter einer Zielgruppe subsummiert, entspricht das analog einer fiktiven Zielgruppe von 10 bis 40 Jahren. Eine gewisse Unschärfe bezüglich der Werbebotschaften lässt sich da schon erkennen.

Ob wohl Giovane Élber (51), Brad Pitt (59) und Gerhard Schröder (79) die ähnlichen Interessen vereinigen?

Mich beschäftigen jetzt mehrere Fragen:
Brauchen alle 50-plus-Menschen Treppenlifte und Hörgeräte?
Wie positionieren sich Makler, die sich auf die Zielgruppe der Menschen im besten Lebensalter konzentriert haben, ohne wie eine Broschüre vom Sanitätshaus Danzeisen zu klingen?
Und woher hat dieser E-Mail-Account mein Geburtsdatum?

Bleiben Sie neugierig!

Jäger & Sammler

Am Beispiel des Einkaufverhaltens. Das Männchen geht eines Morgens auf die Straße und stellt fest: Schnee! Bis zu den Knöcheln. Es watet im Schnee! Das Signal, ein zweites Paar weiße Socken zu den Sandalen anzuziehen und in den angestammten Schuhladen zu fahren. Dort fixiert der große, weiße Jäger die zu dieser Jahreszeit aufgereihten Winterschuhe, greift nach kurzem Rundblick zielsicher einen Schuh heraus, probiert ihn mit angewiderter Miene, nimmt das zweite Stück mit zur Kasse, zahlt und geht. Diese Beute wird ihn sicher durch die nächsten zehn Winter tragen.

Anders das Weibchen: Die als Abfall aussortierten Werbebeilagen der Morgenzeitung des Männchens hat sie fasziniert studiert. Diese neue Teflonpfanne mit gemeißeltem Aluminiumgriff und gedrehtem Stahlboden hat ihr Herz sofort entflammt. Unter einem Vorwand lockt sie das Männchen ins nächst gelegene Einkaufscenter, weil es ja sowieso neue Winterschuhe bräuchte.

Doch dort, ahh! Plötzlich fällt ihr ein. Sie braucht unbedingt neue, weiße Turnschuhe. Die alten sind mindestens schon sechs Monate alt, wenn nicht noch mehr. Also, weiße Turnschuhe müssen es jetzt sein. Instinktiv spürt das Männchen die nahende Gefahr. Jetzt bloß ruhig bleiben. Es setzt sich also vorsichtig auf eine dieser Knöchel hohen Bänkchen und harrt demütig der kommenden Turbulenzen.

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Kurz schöpft es noch Hoffnung, sind doch weiße Turnschuhe zu Dutzenden aufgereiht. Für sein Auge sehen die alle absolut identisch aus. Weit gefehlt. Mit prüfenden Blicken nimmt das Weibchen jedes einzelne Exemplar herunter, dreht und wiegt. Probiert und trägt. Na? Will sie wissen, wie sehen die aus? – Wie ein weißer Turnschuh, wäre jetzt die suboptimale Antwort! Nicken und Grunzen ist die bessere Alternative.

Nach kürzester Zeit gleicht die Turnschuhabteilung einem Kinderfaschingsball in der Endphase. Kein Karton steht mehr auf seinem ursprünglichen Platz. Zwei in entfernte Ecken geflüchtete Verkäufer werden herbei zitiert, um von diesem und jenem Exemplar die passende Größe aus dem Lager zu holen. „Nur die Größen, die Sie hier sehen“, zieht jetzt nicht mehr. Hier waltet das Weibchen in seinem ursprünglichen Reich. Resigniert nehmen es die Verkäufer zur Kenntnis und schleppen eine passende Größe nach der anderen herbei. Weiße Turnschuhe, soweit das Auge reicht!

Das Drama nimmt seinen vorgesehenen Lauf. Doch, plötzlich! Ein „Der-ist-es-Schrei“ durchdringt die Kartonstapel. Tatsächlich. Triumphierend hält das Weibchen einen weißen Turnschuh in die Höhe, der sich für alle anwesenden Männchen in nichts von anderen weißen Turnschuhen unterscheidet. In nichts? Das wäre aber wirklich zu einfach.

Mit unglaublicher Sicherheit hat sie genau das einzige Exemplar unter Hunderten oder Tausenden, wenn nicht Dutzenden gefunden, zu dem es kein zweites Exemplar gibt. Aber genau dieser Schuh muss es sein! Dieser oder keiner!

Nachdem die beiden Verkäufer inzwischen sowieso allen Widerstand eingestellt haben, sortieren sie jetzt alle Schuhe affenartig schnell zusammen. Fast beschleicht den Beobachter der Verdacht, sie wollten das Weibchen loswerden, so emsig sind sie. Die Kartons werden geschwind befüllt und ordentlich gestapelt. Doch zuletzt bleibt genau dieser eine Schuh übrig. Der, der es sein muss.

Ein einsamer, weißer Turnschuh, Größe 39. Und jetzt? Sie sinniert über Ladendiebe, die ihren einen Schuh geklaut haben. Über die Menschheit, die in Kürze vor die Hunde geht, wenn jetzt schon einzelne Schuhe geklaut werden. Über die zehn Gebote. Ein Drama bahnt sich an.

Es naht der Abteilungsleiter. Der Deus ex Machina? Der Retter? Er macht einen Vorschlag. Nehmen Sie doch diesen Schuh, Größe 39 und einen Größe 38, probieren Sie. Vielleicht passen sie ja? Das Gesicht des Weibchens verfinstert sich zunehmend.

Probieren Sie. Wenn sie passen, mache ich Ihnen den halben Preis. Na gut, probieren kann man ja. Zögernd probiert sie. 39 links, 38 rechts ein Paar tastende Schritte. Trippelnd. Zögernd. Aber der halbe Preis?  „Was meinst du, Schatz?“, rhetorisiert sie in Richtung des Männchens, das nur scheinbar entspannt auf dem Bänkchen kauert. Nicken und Grunzen kommt als einzig richtige Antwort.

Na ja, es geht sich eigentlich ganz gut. Also gut, meinetwegen. Gebongt. Die nehme ich. Erleichtert wird sie zur Kasse begleitet und noch erleichterter zum Ausgang. Ihre Euphorie über ihren gelungen Beutezug nutzt das erfahrene Männchen jetzt geschickt aus und dirigiert sie zurück zum Auto. Jetzt bloß kein falsches Wort. Als sie endlich wieder zuhause angekommen sind, fällt es ihr ein. Sie hat die Pfanne vergessen. Glatt! Hättest du mich nicht erinnern können?, tadelt sie.

Hätte ich, denkt das Männchen.

Spieglein, Spieglein an der Wand…

Warum gibt es immer mehr Typberater, Visagisten, Berater und Coaches jeder Couleur?

Weil immer mehr Menschen mit ihrem Selbstbild nicht mehr in Einklang sind. Dass es ein Selbstbild gibt, das jeder irgendwie von sich hat, ist bekannt. Das kann das Bild sein, das man morgens im Spiegel rasiert, auch wenn man das Gesicht nicht gleich erkennt oder die tolle Frau im Abendkleid, die ihr Spiegelbild in der Boutique bewundert. Wenn man mit dem Bild im Spiegel da in Einklang ist, ist alles gut.

Photography Art@Fotolia

Das ist man aber leider nicht immer. Und jetzt kommt das Interessante an dieser Geschichte: Nämlich, wie sich das bemerkbar macht. Unser Gehirn als unerbittlicher Wächter über die gelernte Realität schützt sehr verbissen das, was es als „Eigentum“ zu besitzen glaubt. Die eigene Identität, das eigene Gedächtnis, das eigene Er-Leben.

Ist das Selbstbild also nicht wirklich mit sich in Harmonie, passiert folgendes. Wir alle kennen den Begriff der selektiven Wahrnehmung: Wird eine Frau schwanger, sieht der Ehemann plötzlich überall nur noch Frauen mit Kinderwagen, die er vorher nie wahrnahm. Fühlt sich jemand zu dick, wird er überall auf beleibte Menschen achten.

Subtiler arbeitet das Gehirn bei angelernten Verhaltensmustern, mit denen der Mensch nicht wirklich, aber unbewusst, nicht übereinstimmt. Um sein Selbstbild aufrecht zu erhalten, projiziert es die – eigentlich eigenen Störungen – auf beliebige Gegenüber. Mensch, kommt der aber arrogant daher, denkt das Stammhirn desjenigen, der Probleme mit seiner eigenen Arroganz hat.

Wie lieblos dieses Pärchen miteinander umgeht, denkt die Frau, deren eigene Ehe schon lange unter Lieblosigkeit leidet. Tatsächlich nehmen wir an anderen nur wahr, was der Andere von uns als Spiegelbild zurück wirft. So erklären sich auch die berühmten ersten Sekunden einer Begegnung. Der Andere ist uns sympathisch, weil er unsere eigene Freundlichkeit spiegelt. Der Andere ist uns unsympathisch, weil wir in ihm unsere eigene Herrschsüchtigkeit wahrnehmen. Manch einen, dem wir begegnen, nehmen wir kaum wahr, weil er ins uns selbst schlicht keine Saite zum Klingen bringt.

Wenn Sie sich das nächste Mal also über den fiesen Chef ärgern, der Sie schon wieder nicht gebührend gelobt hat. Wenn Sie ärgerlich auf Ihre Tochter sind, die die Pflichten in der Schule zu nachlässig angeht, dann wissen Sie, was Sie zukünftig tun werden.

Sie werden sich daran erinnern, dass Sie nur wahrnehmen, was Sie im Spiegel des Gegenübers sehen. Und dann urteilen Sie zukünftig vielleicht etwas milder über die vermeintlich so fehlerhaften Mitmenschen. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Erschließt sich jetzt der tiefere Sinn des berühmten Märchens?

Oder Sie machen es wie die Frau im bekannten jüdischen Witz, die zu Ihrem ausgesprochen nicht Mainstream konformen Spiegelbild sagt:

„Dieses Scheusal gönn’ ich ihm.“

Glück!

Damals wohnte ich im Dachgeschoß, vierter Stock. Doch diese Geschichte ist mir noch im Kopf, als wäre es heute früh gewesen.

Ich komme aus dem Büro nach Hause, da springt mich ganz unvermutet das Glück an: Im Flur vor meiner Wohnungstür steht eine Drachenpalme, so nenne ich zumindest diese Art. Immer, wenn ich heimkomme, schaue ich mir die Blätter an und freue mich an ihrem grünen Anblick, der dem schlichten Hausflur etwas Heimeliges verleiht.

So auch dieses Mal. Doch dann! Was sitzt da ganz reglos auf einem schmalen Blatt? Ein Grashüpfer. Sicher fünf Zentimeter lang, grellgrüner Körper, rote Augen und lange, fadenartige Fühler, fast nicht zu sehen erst – und dann plötzlich ganz deutlich.


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So einen schönen Grashüpfer habe ich ja seit Kindertagen nicht mehr gesehen. Und an einen so grünen kann ich mich beim besten Willen gar nicht erinnern. An braune vielleicht? Aber so groß waren die auch nie. Ist er einem Hausbewohner aus dem Terrarium entflohen? Was macht ein exotischer Grashüpfer in der Großstadt im Vierten Stock? Biene Maja lässt grüssen.

Da war es: Das Glück. Dieses ursprüngliche Gefühl von reiner Freude, von Kindsein, von Unschuld, von Harmonie und Einheit. Diese unerwartete Begegnung mit einer Heuschrecke im Dachgeschoss.

Das ist es, was mitunter leicht in Vergessenheit gerät, fällt mir ein. Was bedeutet eigentlich Glück? Das sind doch diese flüchtigen, unerwarteten Momente. Das Strahlen, wenn einen ein Kleinkind erkennt. Die warme Sommersonne, die plötzlich durch dunkle Regenwolken bricht und einen Regenbogen zaubert, das plötzliche Lächeln einer Fremden in der U-Bahn. Oder eben die Begegnung mit einer Heuschrecke im Vierten Stock.

Wie ist also Glück definiert?

Es kommt unerwartet, ist flüchtig, wirkt kitschig, wenn man darüber schreibt, ist kurz, einen Wimpernschlag vielleicht und lässt dich mit einem warmen Gefühl zurück, das den ganzen Tag verschönt.